„Man kann über jeden Menschen einen spannenden Film machen.“
Schülerinnen des AMGs trafen den Regisseur Andreas Dresen im Filmmuseum Potsdam
Für kurze Zeit nur hing sie im Raum, die Frage, wie eigentlich ein Film entsteht, als plötzlich eine Wespe von draußen hereintaumelte, kaum hörbar über die angespannten Köpfe am Fenster zu kreisen begann, ein paar unbeholfene Kurven flog und dann, scheinbar mit ihrem nahenden Ableben im Reinen, ungeachtet aller drängenden filmspezifischen Fragen, zurück durch das Fenster wieder herausfand. Genau so entsteht zuweilen ein Film: durch Zufälle, unergründliche Formen der Inspiration, quälende Ungewissheiten und das Ringen mit dem Unvorhersehbaren.
Näheres sollten die zwölf jungen Frauen des Leistungskurses Deutsch in den nächsten zwei Stunden von Andreas Dresen erfahren, den mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Film-, Theater- und Opern-Regisseur, der 2019 für Gundermann u. a. den Deutschen Filmpreis für den besten Spielfilm und die beste Regie erhielt. Er sprach mit ihnen über Improvisation, Regiekonzepte, Schauspielführung, die Umsetzung von Drehbüchern und seine filmästhetischen Vorlieben. Dabei erlebten die Schülerinnen ihn als jemand ganz und gar Bodenständigen, der vollkommen offen über seine Befindlichkeiten sprach.
„Ich habe bei jedem Film Angst“, ließ der vielleicht bedeutendste deutsche Regisseur der Gegenwart die Schülerinnen wissen. Angst vor dem Unwägbaren des Filmemachens, Beklommenheit im Umgang mit den Schauspielern, die für ihn Priorität haben, denen er maximalen Raum geben möchte und die, wie er sagt, im „seelischen Sinne“ schutzbedürftig sind, weil sie immer wieder „dicht an den Abgrund herangehen“ müssen. Gleichwohl liebt Andreas Dresen es, „Subtexte mit Schauspielern herauszufinden“ und in die seelischen Tiefen vorzudringen, die es bei seinem Filmemachen zu erkunden gilt.
Möglich ist ihm das nur, wie er sagt, indem er bei seiner Arbeit auf „Vertrauen“ setzt, nicht auf „steile Hierarchien“. So könne das entstehen, was er besonders schätzt: „intensive Erfahrungen miteinander“ zu machen, und darauf „zu hoffen, dass etwas Besonderes passiert“ und es dann heißt: „Jetzt fliegt ein Engel durch die Raum“.
Andreas Dresen war mit dem Fahrrad gekommen, bekleidet mit einer Regenjacke, darunter ein dunkelblauer Pullover, eine schwarze Cargohose, dazu schwarze Sneaker. Praktisch, strapazierfähig und zugleich stilsicher. Diese Authentizität ist auch ein herausragendes Kennzeichen seiner Filme. Realismus bedeutet für ihn allerdings nicht, dass er glaubt, das „wirkliche Leben“ zu zeigen. „Was man im Kino sieht, ist nicht die Realität“, es soll aber so „wirken“. Seine Vorliebe für Improvisation hilft dabei, nah am Leben zu sein.
Das ist auch ein Grund dafür, dass er sich dem für seinen Sozialrealismus bekannten englischen Regisseur Ken Loach in besonderer Weise verbunden fühlt, ihn geradezu „verehrt“. Eines seiner „größten Geschenke“ war es, im Rahmen seiner Tätigkeit als Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock, ein Gespräch mit Ken Loach über sein Filmschaffen führen zu dürfen. Anlass zu der Hoffnung, dass daraus irgendwann ein ähnlich bedeutendes Buch hervorgeht, wie das von 1962, in dem das Gespräch zwischen Alfred Hitchcock und François Truffaut abgedruckt ist, gab der äußerst bescheidene Regisseur allerdings nicht.
In seinen Filmen geht es Andreas Dresen nicht um die Inszenierung von Helden und Übermenschen. Es geht um reale Personen. Darin zeigt sich das Grundverständnis seiner Filmkunst, dass man „über jeden Menschen einen spannenden Film machen“ kann; und das nicht, um die Zuschauer zu belehren. In seinen Filmen wird der Facettenreichtum des Menschen erfahrbar, seine Widersprüchlichkeit, und das in einer spezifischen kulturellen Umgebung. Er macht Filme, die ein äußerstes Maß an Einfühlungsvermögen zeigen. Filme, die zutiefst berühren und, wie sein neuer Film, In Liebe, eure Hilde, erschüttern und zugleich hoffnungsvoll stimmen.
Andreas Dresen, der in der DDR geborene Sohn eines Theaterregisseurs und einer Schauspielerin, eröffnete immer wieder sehr persönliche Einblicke in sein Kunstschaffen. Beispielsweise wie er einer Schauspielerin versuchte die Anspannung zu nehmen vor einer zentralen und emotional belastenden Szene, mit der das gesamte Projekt hätte scheitern können. Aber auch, wie belastend die zwei bis zweieinhalbjährige Arbeit an einem Film sein kann. So sehr, dass er während einer Produktion vormittags therapeutische Hilfe in Anspruch nahm und anschließend zum jeweiligen Drehort fuhr.
Die Schülerinnen des AMGs erlebten Andreas Dresen als ausgesprochen herzlichen und vollkommen uneitlen Filmkünstler, der ihnen, wie den Figuren in seinen Filmen, auf Augenhöhe begegnete. Er macht Filme im Bewusstsein seiner Fehlbarkeit, immer darum bemüht, (persönlich und in seinem Filmschaffen) authentisch zu sein, dem Zufall Raum zu geben und das Unvollkommene als unveräußerlichen Teil seiner Arbeit zu begreifen. „Das haben wir schon besser gesehen; aber nicht von uns. Lasst uns was trinken gehen. Morgen geht es weiter.“
Womöglich ist es den Schülerinnen während des Gesprächs so ergangen, wie Andreas Dresens Team und diversen Figuren in seinen Filmen: vielleicht ist es ihnen gelungen, im Fremden das Eigene zu sehen und darauf zu vertrauen, dass das Beste noch kommt.
Text: Dr. Detlef Klein, AMG Bensberg