‚Der nackte Mensch‘ – Maxim Gorkijs „Nachtasyl“ am AMG

In den Zeiten der Merkelraute und hochsommerlichen Temperaturen, die für gewöhnlich mit dem Abstumpfen intellektueller Feinfühligkeit einhergehen, kann die Aufführung des Literaturkurses der Q1 unter der gelungenen Leitung von Herrn Daniel Klisch als ‚kalter Weckruf‘ gedeutet werden. Die Aktualität des Stückes – dessen Erstaufführung immerhin schon über 100 Jahre in der Vergangenheit liegt – verblüffte sicherlich das hochinteressierte und am Ende begeisterte Publikum in der Aula des AMG. Die Besetzung der Inszenierung wusste bis in die Nebenrollen zu überzeugen und machte wieder einmal deutlich, dass Schülertheater Theater im besten Sinne des Wortes sein kann.

Die sozialen Unterschiede des zaristischen Russlands – die im Original aufs Korn genommen werden – wurden in der AMG-Inszenierung auf die westliche Wohlstandsgesellschaft projiziert. Die aseptisch rein-weiße bessere Gesellschaftsschicht war durch die Bühnenerhöhung deutlich separiert von den vergessenen, abgeschriebenen und gescheiterten Existenzen. Im Unterschied zur aktuellen Medienrealität waren es in der Aufführung gerade die Verlierer der Gesellschaft, die – durchaus verblüffend eloquent – ihre missliche Lage reflektierten, wohingegen die finanziellen Gewinner des Systems ihrem stummen Hedonismus frönten (dies wurde dramaturgisch höchst effizient durch den Einsatz sinnentleerter Technobeats untermalt, die den Zuschauer unweigerlich die Verbindung zum postmodernistischen Hedonismus der American Psycho-Yuppies herstellen ließ).

Neben anthropologischen (was macht einen Menschen zum Menschen) sowie moralischen Fragen (wie kann, respektive warum soll man gut handeln) stellte die Inszenierung nicht weniger als die bestehende Gesellschaftsordnung infrage. Die entscheidende Frage – was macht den Menschen in der Gesellschaft zum Verlierer oder Gewinner und was kann man gegen diesen Missstand ausrichten – wurde konsequenterweise nicht beantwortet.

Zwei Hinweise der Inszenierung werfen diesbezüglich trotzdem Fragen auf. Zum einen die Rote-Kreuz-Kleiderbox und das Finale der Aufführung. Durch ersteres wurde ostentativ das zwar verständliche aber letztlich nur das eigene Gewissen beruhigende Gutmenschengehabe gespießt. Durch letzteres – in dem schwarz vermummte Gesellen die Bühne stürmten, die weiße Wohlstandswelt verwüsteten und das Graffito ‚Wir brauchen euer Mitleid nicht‘ und das schon seit langem sinnentleerten Anarchiesymbol auf Möbel und Wände sprühten – wurde ein pseudo-revolutionäres Szenario gezeichnet, das in seiner Ambivalenz eine kritische Deutung erfordert. Die Inszenierung gab keine Hinweise darauf, warum die wohlhabende Klasse ein Leben in Luxus leben kann (allgemeine kapitalismuskritische Grundideen wurden zwar angedeutet, doch nicht expliziert), auch muss gefragt werden, ob nicht Empathie ein erster Schritt hin zur Linderung der sozialen Missstände sein kann oder sein muss. Die Umkehrung der bestehenden Gesellschaftsordnung ohne konkretes revolutionäres Programm erscheint – vor allem vor dem Hintergrund des ideologischen Treibguts, das die Abgehängten der Gesellschaft darstellten – diskussionswürdig. Letztlich bleibt zu hoffen, dass sich sowohl die Schauspieler als auch der Großteil des Publikums des selbstkritischen Moments der Inszenierung im Bensberger Speckgürtel bewusst waren, und dass diejenigen, die ‚am Boden‘ liegen (so die wörtliche Bedeutung des Originaltitels) wieder mehr in den Fokus rücken – die AMG-Inszenierung hat sicherlich ihren Anteil dazu beigetragen.

Text und Fotos: Dr. Felix Forster

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