Gedenken an die Reichspogromnacht vor 76 Jahren

Die AMG-Schülerin Viktoria Sochor (EF) hat in diesem Jahr einen Beitrag zur offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Köln zur Erinnerung an die Reichspogromnacht im Jahr 1938 gestaltet. In der Kölner Synagoge berichtete sie über das Leben des Zeitzeugen Hellfried Heilbut, der die Judenverfolgung im Nationalsozialismus als Kind miterleben musste.

Viktoria Sochor, Herr Heilbut und ein Kölner Schüler

Viktoria Sochor, Herr Heilbut und ein Kölner Schüler

Herr Hellfried Heilbut aus Bergisch Gladbach war im vergangenen Schuljahr zu Gast im Geschichtsunterricht der Klasse 9d gewesen. Neben Viktoria traten auch Schüler verschiedener Kölner Schulen bei der Veranstaltung auf. Oberbürgermeister Jürgen Roters dankte ihnen für ihr Engagement.

Anna Ruhland
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Der Vortrag von Viktoria Sochor:

Als die Schülerinnen und Schüler der 9d im Geschichtsunterricht bei Frau Ruhland den Nationalsozialismus behandelten, bot sich ihnen die Möglichkeit, den Zeitzeugen Herrn Hellfried Heilbut (geb. 1926) kennen zu lernen. Er wurde als Halbjude verfolgt und konnte als Zwölfjähriger mit einem Kindertransport nach England gerettet werden. Die Pogromnacht am 9./10. November 1938 verdeutlichte der Welt, welches Schicksal der jüdischen Bevölkerung bevorstand. Darum begangen britische Flüchtlingskomitees eine der größten Rettungsaktionen, indem sie jüdischen Kindern durch so genannte Kindertransporte das Leben retteten. Aufmerksam saßen die Schüler im Klassenraum und hörten gespannt zu, als Herr Heilbut in Begleitung seiner Frau seine Geschichte erzählte.

Der nun in Bergisch Gladbach lebende Herr Heilbut wuchs in Freital bei Dresden auf und war sechs Jahre alt, als die Nazis die Macht übernahmen. Sein jüdischer Vater war nicht religiös, weshalb Hellfried zunächst nicht wusste, dass er jüdischer Abstammung war. Der Vater, ein Redakteur der Dresdner Volkszeitung, schrieb kritisch über Nazis und wollte nicht, dass diese an die Macht kamen. Doch schließlich verwüsteten die Nazis die Zeitung und schossen an das Haus des Sozialdemokraten. Bei dem Versuch, Hellfried zu verteidigen, wurde seine Mutter verletzt und der Vater aus dem Haus geschleppt. Er kam für ein Jahr ins Gefängnis und, da die Nazis Freital „judenfrei“ deklarieren wollten, zog Herr Heilbut mit seiner Mutter und seinen älteren Geschwistern nach Dresden. Seine Mutter eröffnete dort einen Lebensmittelladen, vor dem aber nach kurzer Zeit SA-Leute standen und riefen: „Kauft nicht bei Juden, kauft bei Deutschen!“. Somit verschlechterte sich Familie Heilbuts finanzielle Lage, doch Freunde des Vaters kauften immer noch an der Hintertür des Ladens ein.

Auch nach ein bis zwei Wochen in der Schule wurde Hellfried schnell bewusst, dass er einen jüdischen Hintergrund hatte. Er musste stets mit Beleidigungen wie „Drecksjude“ kämpfen und wurde auf dem Hof gezwungen das „Deutschlandlied“ mitzusingen, weil er ansonsten verprügelt würde. Noch heute fällt es ihm schwer diese Melodie zu hören. Als einziger Jude in der Klasse wurde er selbst von seinen Lehrern schikaniert und hatte schließlich in sechs Schuljahren keinen einzigen Kameraden. Denn obwohl ihn rund die Hälfte der Klasse nicht beschimpft hatte, wurde er nicht in Schutz genommen, da die Kinder Angst hatten, als „Judenfreund“ beschimpft zu werden. Laut Hellfried Heilbut waren Kinder, die in jüdische Schulen gingen, „Glückskinder“. Denn obwohl sie auch auf dem Nachhauseweg verprügelt wurden, konnten diese sich während der Schulzeit wie normale Menschen fühlen.

Als Hellfrieds Vater schließlich auch nach Dresden kam, wurde die Familie immer noch beschimpft. Also schickten die Eltern Hellfried und seine Geschwister zu einem Pastor und baten ihn, diese als evangelische Christen zu taufen, weil sie dachten, es würde ihnen dann besser gehen. Doch der Pastor entgegnete: „In meine Kirche kommen keine Juden!“. Hitler hatte es sogar geschafft, Mitglieder der Kirche zu überzeugen, obwohl Jesus selbst Jude war. Trotzdem taufte der Pastor die Kinder, jedoch auf den Treppen zur Kirche.

Als letzten Ausweg schickten Hellfrieds Eltern ihn schließlich nach England, wo rund 10.000 jüdische Kinder und Jugendliche aufgenommen wurden. Sie sagten ihm, dass er drei Tage Zeit habe zu packen und Hellfried freute sich auf das vermeintliche Abenteuer. Im Zug war er der einzige, der guter Stimmung war und wie er später berichtete, sah es so aus, als sei ein neuer Bach aus Tränen neben den Schienen entstanden. Hellfrieds Eltern sagten ihm, sie würden bald nachkommen und bemühten sich auch sehr, doch es gelang ihnen vor Kriegsausbruch nicht mehr, Visa zu bekommen.

Eine englische Schule in Lancashire machte den Kindern Platz und wurde zu einem Internat. Drei Monate lang brachten deutsche Lehrer den Schülern Englisch bei und daraufhin wurden die Kinder von sehr netten englischen Lehrern unterrichtet. Jeden Monat mussten die Schüler Briefe an ihre Familien schreiben. Ansonsten bekamen sie aber nicht viel vom Krieg mit, da nur sehr selten deutsche Flieger über die Schule flogen. Einmal im Jahr in den Ferien fuhr Hellfried zu entfernten Verwandten, die in London lebten. Von ihnen erfuhr er auch, dass sein Vater 1943 in Auschwitz ermordet worden war.
1947 nahmen alle Schüler die englische Staatsangehörigkeit an. Nachdem Hellfried Heilbut die Schule beendet hatte, arbeitete er in London als Klempner und machte dann eine Lehre in der Schiffswerft, worauf er acht Jahre lang zur See fuhr bis er ca. 30 Jahre alt war.

Nach dem Krieg sah er dann auch seine Familie wieder. Seine Schwester hatte in einem Keller versteckt überlebt und sein Bruder war in das Konzentrationslager Sachsenhausen gekommen, hatte aber ebenfalls überlebt. Sie gingen nach Hamburg und als Hellfried für eine englische Firma in Deutschland gearbeitet hatte, wollte auch er nach Hamburg, doch bekam er eine Stelle in Köln. Mitte der 50er Jahre wanderte seine Schwester nach Amerika aus und Hellfried lernte 1958 seine heutige Frau auf einer Ausstellung kennen. Er sagte, dass er es nicht bereue, wieder nach Deutschland gekommen zu sein. Doch seit dem Tod seiner Mutter hat er ein schlechtes Gewissen, da er sich nie offiziell bei ihr bedankt hat, dass sie ihn auf den Kindertransport geschickt hat.

Herr Heilbuts Lebensgeschichte berührte die Schüler sehr und veranlasste sie zum Nachdenken. Es war eine spannende und lebhafte Abwechslung zum normalen Unterricht und es war beeindruckend, eine solche Erfahrung von einem Menschen persönlich zu hören, der die Geschichte selbst miterlebt hat.

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